Deutschlands Kinder essen zu ungesund.

Bildquelle: www.europaparlament.eu

Morgens um halb neun startet Obstbauer Otto Themann seinen weißen Kombi, fährt tief in die
niedersächsische Provinz in den Dorfkern von Goldenstedt, biegt auf den Pausenhof der Huntetalschule und lädt dort drei Plastikkisten voller rotbackiger Delbard-Äpfel für die 240 Kinder ab. "So", sagt er und macht sich wieder auf den Rückweg zur Firma.

Das also ist er, der deutsche Beitrag zum europäischen Schulobstprogramm.

Eigentlich war das mal anders geplant in Brüssel. Zu Beginn des neuen Schuljahres sollten nicht nur die Kinder in der ländlichen 95oo-Einwohner-Gemeinde mehrmals pro Woche mit kostenlosen Obst- und Gemüse-Snacks zu neuen Essgewohnheiten animiert werden, sondern auch Millionen anderer Schüler, zum Beispiel in den sozialen Brennpunkten der Großstädte.
Fast 21 Millionen Euro stehen bei der EU für Deutschland bereit, um dem "zu geringen Obst- und Gemüseverzehr" und dem "dramatischen Anstieg der Fettleibigkeit bei Schulkindern" entgegenzuwirken, wie es in der Begründung des europäischen Schulobstprogramms heißt. Doch das Geld fließt nur, wenn Deutschland fast denselben Betrag dazutut, und genau daran scheitert bislang die europäische Obstoffensive. Bund und Länder können sich nicht einigen, wer zahlen soll.
Goldenstedts Bürgermeister Willibald Meyer findet das "beschämend". Es könne doch nicht sein, dass Milliarden in die Rettung von Banken investiert würden, aber keiner Geld für gesunde Pausenhappen geben wolle. So beschloss er, einstweilen ein eigenes Schulobstprogramm zu organisieren und demnächst in Brüssel wegen eines Zuschusses anzufragen. "Das Geld ist doch gut angelegt", findet Meyer.
Das finden auch Bund und Länder – im Prinzip zumindest. Und so sah es anfangs danach aus, als würde es an deutschen Schulen zu einem schnellen Vitaminschub kommen. Als die EU-Kommission im April ihr Programm auflegte, fühlte sich besonders Niedersachsen als Heimat des Alten Landes, des größten zusammenhängenden Obstanbaugebiets Nordeuropas, in der Pflicht. Die Landesregierung in Hannover beauftragte das für Obst zuständige Referat Gartenbau im Landwirtschaftsministerium, ein notwendiges "Gesetz zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über das Schulobstprogramm" vorzulegen. Im "SchulObG" sollte auch die deutsche Co-Finanzierung geregelt werden.
Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) wollte das neue Gesetz nebenbei mit einem Feldversuch wissenschaftlich absichern lassen. 9000 Schüler in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wurden mit kostenlosem Obst und Gemüse beliefert und dabei von Luxemburger Marktforschern beobachtet. So erfuhr Aigner, dass Kinder besonders Erdbeeren und Gurken mögen und die ,Verzehrgewohnheiten" der beiden Geschlechter etwas unterschiedlich sind: Mädchen äßen etwas mehr Grünzeug, heißt es im Zwischenbericht der Forscher. "Ein Wegwerfen oder Verderb" des Obstes sei "nicht beobachtet" worden. Aigner war zufrieden, doch dann kam der Gesetzentwurf aus Niedersachsen.
Den findigen Gartenbauexperten und Juristen im Ministerium waren die Vitamine mittlerweile etwas aus dem Blickfeld geraten. Stattdessen schienen sie eine elegante Lösung gefunden zu haben, die Kosten komplett auf den Bund abzuwälzen. Wegen der zu erwartenden Großlieferungen an die Schulen deuteten sie das Gesetz zu einer marktstabilisierenden Maßnahme für ihre Obstbauern um, und dafür ist in Deutschland dankenswerterweise der Bund zuständig. Im Übrigen, findet Niedersachsens Landwirtschaftsminister Hans-Heinrich Ehlen (CDU), seien doch "sonst auch alle Gesundheitsthemen in der Hand des Bundes".
Und er bekam Schützenhilfe aus dem Süden der Republik. In so schweren Zeiten wie diesen könnten es sich die Länder gar nicht erlauben, Schulkindern mehrmals pro Woche einen Apfel oder eine Karotte zu spendieren, mahnte auch Friedlinde Gurr-Hirsch (CDU), Staatssekretärin im baden-württembergischen Landwirtschaftsministerium.
Aigner war entsetzt. Das Pilotprojekt habe gezeigt, dass das Schulobstprogramm eine "einfache Möglichkeit" sei, die Ernährungsgewohnheiten der Kinder zu verbessern, und zwar "kostengünstig". Solange diese Gewohnheiten aber innerhalb von Klassenräumen verbessert würden, müssten die Länder zahlen, denn die seien nun mal für die Schulen zuständig. Sprach’s und ließ im Gesetz umgehend die Wörter "der Bund" durch "die Länder" ersetzen, immer dann, wenn es um die Finanzierung ging. So wurde die Regelung am 18. Juni im Bundestag beschlossen.
Dann kam der 10. Juli, an dem der Bundesrat über 62 Gesetze der Volksvertretung zu entscheiden hatte. Bad-Bank-Gesetz, Internetsperren und schließlich auch das SchulObG – das als einziges in den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat verwiesen wurde. Der vertagte sich erst einmal, so dass es in dieser Legislaturperiode wohl nichts mehr wird mit dem Schulobst.
Berlin, Bremen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein sind ohnehin bereits ausgestiegen. Ihnen war schon die ganze Organisation des Obstprogramms zu stressig, und so gaben sie im Mai bekannt, dass sie nicht mitmachen werden – egal, wer zahlt.

Quelle: DER SPIEGEL 34 /2009